Die Schublade

Kurzgeschichte von Eberhard Malwitz, November 2009

Leichte Brisen kräuselten die Wasseroberfläche. Herbstliches Laub wirbelte umher. Möwen kreischten in der Stille. Die Sonne wärmte mir den Rücken, während ich den Fischen und den dümpelnden Booten zusah. Es war noch früh am Tag und ich wähnte mich allein. Nur ein Mann dort drüben stand wie ich am Hafenbecken und blickte gleich mir übers Wasser. Dabei wippte er ständig auf den Fußspitzen, wobei er die Hände lässig in den Hosentaschen behielt. Gelegentlich schaute er zu mir herüber, musterte mich von Weitem dreister und länger, als man normalerweise Fremde fixiert. Er erinnerte mich an jemanden, besonders diese Art zu wippen, kam mir irgendwie vertraut vor. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er ein paar Schritte in meine Richtung machte und dann wieder unschlüssig stehen blieb. Ich zermarterte mir mein Gehirn, fand aber nichts Brauchbares. Als er langsam auf mich zukam, fühlte ich, wie mir das Blut in den Kopf schoss, wie sich meine Wangen röteten.

Verzweifelt rief ich nach meinem Buchhalter, der sich, wie so oft in letzter Zeit, irgendwo in meinen Gehirnwindungen verkrochen hatte. Der Fremde kam immer näher. Ich wandte mich ab, wollte mich von ihm entfernen, um Zeit zu gewinnen.
Alt ist er geworden, fiel mir auf, als mein Buchhalter endlich daher geschlürft kam.
„Such Mensch suche schnell“, fauchte ich ihn an.
„Ich beeile mich ja“, gab er etwas verstimmt zurück.
Unvermittelt war der Fremde mit mir auf Augenhöhe, passte sich meinem Schritt an, wurde langsamer, blieb nachdenklich stehen und musterte mich. Wie wir uns so wortlos anstarrten, lag mir sein Name schwer auf der Zunge, konnte ihn aber nicht aussprechen.
Obwohl ich mich mit meinem Buchhalter prinzipiell nur in Gedanken unterhielt, schien mein Gegenüber dennoch bemerkt zu haben, dass ich verzweifelt in meinem Kopf herumkramte.
Langsam verzog sich sein Gesicht zu diesem typischen Grinsen, das keiner Worte bedarf, um zu verstehen, was es bedeutet. Ich grinste wortlos zurück, tat so, als ob auch ich ihn erkannt hätte, und setzte alle Hoffnung auf meinen Buchhalter. Doch stattdessen stieß der Fremde unerbittlich hervor: „Na? Na?“ Dabei schaute er mich fragend direkt in die Augen, während sich in seinem Gesicht die ersten beleidigten Furchen bildeten.

„Weißt du wenigstens, wo ich suchen soll?“, meldete sich aufgeregt mein Buchhalter aus dem Stammarchiv.
„Schau mal unter Fußball nach“, gab ich ihm einen Tipp.
Ich hörte das Rascheln, als er wild in den Akten zu wühlen begann.
„Aber hier sind viele: Fußballfans, schlechte Spieler, gute Spieler in kleinen und großen Schubladen“, hallte sein verzweifeltes Selbstgespräch durch meinen Kopf.
„Vielleicht Karl Mo, … oder so ähnlich?“, fragt er verzweifelt.
Ach ja, der Karl Molke, fiel es mir wie Schuppen von den Augen; der muss es sein.
„Zieh die Schublade weiter auf, mach schnell“, forderte ich ihn auf, „und sage mir, was du siehst.“
„Guter Fußballer, Stürmer, sehr schlank, schüchtern, mittelmäßiger Schüler, ein bisschen dumm“, las mein Buchhalter vor.

Hartnäckig mischte sich wieder der Fremde, – immerhin wusste ich jetzt seinen Namen – in unser stummes Zwiegespräch:
„Na … ist das keine Überraschung, erinnerst du dich? Ich bin der Karl. Weißt du noch vor, … warte mal, … das muss jetzt 36 Jahre her sein … im Internat, … wir waren doch im selben Zimmer.“
„Ja richtig, ich weiß noch, du warst der beste Fußballer weit und breit.“ Während ich das sagte, hoffte ich auf weitere Informationen von meinem Buchhalter, aber der zuckte nur mit den Schultern und meinte, in der Schublade sei nicht mehr drin.

„Oh, das mit dem Fußball ist aber schon lange her. Inzwischen ist viel passiert, mein Lieber, nach dem Abitur habe ich den Fußball an den Nagel gehängt und an der Harvard-Universität studiert.“
Während ich ihm ungläubig zuhörte, meldete sich wieder mein Buchhalter: „Soll ich die neuen Informationen schon einordnen?“
„Nein, warte noch, ich glaub ihm das nicht, das passt doch irgendwie nicht zusammen … mittelmäßiger Schüler und Harvard.“

„Jetzt bin ich Abgeordneter im Parlament“, setzte Karl noch einen drauf.
Spätestens in diesem Moment sträubten sich mir die Haare und ich dachte bei mir so intensiv, dass es auch mein Buchhalter mitbekam: „Tut mir leid, Karl, aber wir haben zurzeit für dich keine größere Schublade frei. Du musst vorerst noch dort drin bleiben, wo wir dich damals hineingesteckt haben.“
Aber Karl fuhr unbeirrt fort: „Du solltest uns einmal am Starnberger See besuchen, dort besitzen wir eine Zweitwohnung, nur eine kleine Villa, aber schön am Wasser gelegen.“

„Wenn das auch noch rein soll, ist die Schublade wirklich zu klein, oder wir schmeißen die alten Sachen raus“, flüsterte mein Buchhalter mir ins Ohr.
„Auf keinen Fall wird jetzt schon eine größere Schublade geopfert“, wies ich ihn an, „das muss alles noch genau überprüft werden.“

Während ich mich gedanklich mit meinem Buchhalter unterhielt, starrte mich Karl die ganze Zeit entgeistert an. Offensichtlich erkannte er an meiner Mimik, dass ich einen inneren Dialog hielt, an dem er nicht beteiligt war.
Karl war durch meinen Gesichtsausdruck und meine Wortkargheit derart irritiert, dass er plötzlich das Thema wechselte. Er begann über das Wetter zu reden, schaute auf die Uhr und hatte es auf einmal eilig.
„Du, ich muss jetzt leider los“, sagte er, hielt mir mit der Linken seine Visitenkarte vor die Nase und schüttelte mir mit der Rechten die Hand.
„Ruf mich an“, fügte er hastig hinzu und schob mir das Kärtchen in die Brusttasche.
„Aber willst du denn gar nicht wissen, was aus mir geworden ist“, rief ich ihm noch hinterher.
Doch statt zu antworten, hob Karl im Gehen nur noch die Hand, was wohl bedeuten sollte‚’das hat noch Zeit … bis später mein Lieber’ und eilte davon, ohne sich umzusehen.

© Eberhard Malwitz