2 Mutprobe

Müde geworden legte ich das Album aus der Hand und knipste die Nachttischlampe aus. Doch die Schwarz-Weiß-Fotos aus meiner Jugend hatten Erinnerungen geweckt, die mich aufgewühlt hatten. Insbesondere das zerkratzte Bild von der Ostsee mit den Resten der ehemaligen Seebrücke von Binz auf Rügen.

Es war verboten, dort hinzuschwimmen. Deswegen entschied ich mich, etwas abseits vom Kurhaus zu starten. Voller Lebensfreude warf ich mich mutig in die Brandung und kraulte entschlossen meinem Ziel entgegen. Über mir der blaue Himmel des Frühsommers 1952, vor mir die Wellen, die mir im Wechsel die Sicht versperrten und wieder freigaben. 560 Meter vom Strand entfernt ragten noch die Pfähle der Landungsbrücke aus dem Wasser, wo früher Dampfer voller Feriengäste angelegt hatten. Im Winter 1942 wurde die vermoderte Holzkonstruktion von Eisschollen zerstört. Die Naturgewalt hatte lediglich diese mächtigen Baumstämme übriggelassen, die nun schwarz aus dem Wasser ragten.

Meine Freunde aus Zirkow, zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt, hatten angeblich alle schon diese Mutprobe bestanden. Nur ich hätte es noch nicht geschafft, stichelten sie. Im Dorf konnten Mädchen wie Jungs passabel schwimmen, obwohl sie es sich lediglich in einem kleinen Baggersee selbst beigebracht hatten, erst den Hunden abgeschaut und dann den älteren Jungs.

Der Wind stand günstig und ich kam den Pfählen schnell näher. Das Stimmengewirr am Strand verebbte allmählich. Nur noch das Säuseln des Windes und das Rauschen der Wellen, die manchmal mit kleinen Schaumkronen daherkamen, waren zu hören. Weit und breit kein Boot, kein Schwimmer. In der Ferne zur Linken und zur Rechten beruhigten mich die vertrauten Hochufer von Saßnitz und Binz. Ab und zu tauchten neugierige Möwen auf. So auf mich gestellt war ich noch nie. Ein Gefühl von Beklemmung machte sich in mir breit. Das Schwimmen war anstrengender als gedacht. Ich erwog umzukehren. Noch hoffte ich, mich am Bollwerk etwas ausruhen zu können. Endlich am Ziel musste ich all meine Versuche aufgeben, irgendwo einen Halt zu finden. Nirgends war ein Vorsprung oder wenigstens ein rostiger Nagel, nach dem ich hätte greifen können. Die etwa fünf Meter hohen Holzstämme, überzogen mit glitschigen Algen, waren zu dick, um sie mit den Armen zu umklammern. Panik ergriff mich. Du musst sofort umkehren, schoss mir ins Bewusstsein. Hier draußen war das Wasser kälter als in Strandnähe. Zurück schwamm ich um mein Leben. Instinktiv steigerte ich meine Schwimmbewegungen, um den Körper nicht unterkühlen zu lassen. Oft hatte ich miterlebt, wie Helfer sich am Strand bemühten, Ertrunkene zu reanimieren, meistens vergeblich.

Noch konnte ich mich auf meinen sportlich trainierten Körper verlassen. Mein Aufenthalt im Kindersanatorium lag über zwei Jahre zurück und seitdem hatte mich meine Kondition nicht mehr im Stich gelassen. Doch zunehmend musste ich einsehen, dass der Rückweg aufgrund des Gegenwindes wesentlich anstrengender war. Zeitweise hatte ich den Eindruck, überhaupt nicht mehr voranzukommen. Immer öfter tastete ich mit Zehenspitzen nach festem Grund, um eventuell eine rettende Sandbank zu entdecken. Sollte ich so enden wie jene, die alljährlich an den Binzer Strand gespült wurden? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch nicht mit dem Tod beschäftigt. Niemand wusste von meinem Vorhaben. Es einmal zu wagen, war mir spontan in den Sinn gekommen. Würde man mich überhaupt finden?

Die Menschen am Strand waren mittlerweile deutlich zu erkennen, aber meine Hilferufe gegen den Wind konnten sie unmöglich hören. Ich spürte die Kälte in den Gliedern, die mir die letzte Kraft raubte, und schrie meine Angst vor dem Ertrinken heraus.

Meine Frau neben mir war erschrocken im Bett hochgefahren und rüttelte mich wach.

„Du hast gerade im Schlaf geschrien!“, rief sie entsetzt. Ich muss mit meinen Erinnerungen eingeschlafen sein. Nassgeschwitzt erzählte ich ihr von meinem Traum, von der Angst zu ertrinken und von der Mutprobe, wie sie sich in der Realität zugetragen hatte. Damals war ich erst vierzehn Jahre alt und Rügen gehörte noch zur DDR.

Nachdem ich zur Ruhe gekommen war, legte ich mich wieder auf die Seite und hing meinen Erinnerungen …

 

3 Heimkehr

„Er ist da“, flüsterte meine Mutter mir ins Ohr. Das Zittern ihrer Stimme verlieh den Worten etwas Würdevolles. Freudentränen tropften auf meine Wange. Obwohl ich mich noch im Halbschlaf befand, hatte ich alles verstanden. Als ich mich im Bett nicht rührte, legte sie mir die Hand auf die Stirn und sagte mit etwas mehr Nachdruck:

„Dein Vater wartet im Flur auf dich … und vergiss nicht, ihn zu umarmen.“

Dann verließ sie das Krankenzimmer der Poliklinik in Bergen, ließ aber die Tür zum Flur offen. Einen Augenblick blieb ich auf der Bettkante sitzen und genoss die Morgensonne auf meinem Rücken. Dann ließ ich meine nackten Füße auf den Fußboden gleiten und lief auf den Flur dem alten Mann entgegen, der mein Vater sein sollte. Grau war er geworden mit seinen fünfzig Jahren, fiel mir sofort auf. Dennoch, die Rolle des glücklichen Sohnes spielte ich überzeugend und warf mich in seine ausgebreiteten Arme. Mit dem Instinkt eines Zwölfjährigen ahnte ich, jetzt würde sich alles ändern.

Kurz vor meinem siebenten Geburtstag hatte ich ihn zum letzten Mal gesehen, im Februar 1945, in unserer Wohnung in Stettin. Das Ende des Krieges war abzusehen, denn die Rote Armee näherte sich bereits vom Osten der Oder. Unsere Stadt wurde fast täglich bombardiert. Wenn nachts die Sirenen heulten, wurden meine Schwester Rita und ich von unserer Mutter unsanft geweckt. Dann musste alles schnell gehen, notdürftig anziehen und im Laufschritt zum unterirdischen Bunker, noch bevor die ersten Bomben fielen. Ohne Vater, denn der hatte meistens Nachtdienst.

Immer öfter drängte er meine Mutter mit uns Kindern zur Flucht. Selbst musste er dem Befehl gehorchen, Stettin noch nicht zu verlassen. Mit einer Adresse von einem Gutshof auf der Insel Rügen, wo wir uns melden sollten, machten wir uns auf den Weg. Bis zu unserem Ziel mussten wir Strapazen ertragen, die an die Grenzen unserer Belastbarkeit gingen. Der Rügendamm war an zwei Stellen gesprengt worden. Bahn- und Straßenverkehr waren zum Erliegen gekommen. Deshalb mussten wir weite Strecken zu Fuß zurücklegen. Lediglich die letzten 10 Kilometer nach Bergen erbarmte sich ein Bauer und nahm uns auf seinem Fuhrwerk mit. Wir übernachteten zusammen mit anderen Geflüchteten in einem großen mit Stroh ausgelegten Saal. Die Gutsherrin, deren Adresse mein Vater uns mit auf dem Weg gegeben hatte, holte uns am nächsten Tag mit einer Kutsche ab. Damals war streng reglementiert, wer wie viele Menschen aus dem Osten Deutschlands aufnehmen musste. Wir wohnten nur wenige Tage auf dem Gut. Dann beschlagnahmte die deutsche Wehrmacht die Zimmer für sich und die Gutsherrin suchte uns in Zirkow, einem kleinen Dorf mit 500 Seelen, ein anderes Quartier.

Wir hatten zwar bis auf einen Koffer mit dem Allernötigsten alles verloren, aber Bombenangriffe brauchten wir nun nicht mehr zu befürchten. Die Dorfbewohner, nicht besonders erfreut über die vielen Neuankömmlinge, gaben uns immerhin ein Dach über dem Kopf und ließen uns nicht verhungern. Weder die Einheimischen noch die Flüchtlinge ahnten, dass es für die meisten kein Zurück mehr geben würde.

 

13  Schule und Internat

Ich setzte mich schließlich bei meinem Vater durch, die polytechnische Oberschule in Binz zu besuchen. Das war in der DDR als Sohn eines ehemaligen Beamten gar nicht so einfach, selbst wenn der Notendurchschnitt gut war. Im sozialistischen System hatten die Kinder von Arbeitern und Bauern Vorrang. Dass ihnen unabhängig von der Finanzkraft und Bildung ihrer Eltern soziale Gerechtigkeit widerfuhr, war dem fortschrittlichen Bildungssystem der DDR zu verdanken. Leider geschah das auf Kosten der intellektuellen Schicht.

Durch Interventionen seitens meiner Eltern durfte ich trotzdem die Oberschule besuchen. Meine Mutter hatte mich bei meiner Entscheidung von Anfang an unterstützt. Der wahre Grund war allerdings nicht die Oberschule, sondern Klaus Rehmer aus Süllitz. Ihn hatte ich schon mit vierzehn Jahren beim Kicken kennengelernt. Ein talentierter Fußballer, der bereits in der Jugendmannschaft von Binz spielte. Als er mir erzählte, dass er dort die Oberschule besuchen möchte, war ich Feuer und Flamme und wollte es ihm gleichtun. Meinen Eltern verschwieg ich, dass es mir hauptsächlich darum ging, auch in der Binzer Jugendmannschaft spielen zu dürfen. Die hatte damals einen hervorragenden Ruf. Ich freute mich mehr auf meine Karriere als Fußballer und aufs Internatsleben als auf den Unterricht. Jedenfalls war es eine Zeit, die mich erfüllt hat. Als Sohn einer fürsorglichen Mutter und eines Vaters, der fast alles konnte, war ich zum ersten Mal auf mich allein gestellt. Während sie mich zu diesem Schritt ermunterte, meinte er, er müsse meinen Weg in die Zukunft bestimmen.

Die Schüler erhielten immerhin ein Stipendium von monatlich 60 Ostmark. Das Internat behielt davon 42. Die restlichen 18 bekamen sie als Taschengeld vom Hausmeister ausgezahlt. Ich weiß nicht mehr, wie es die anderen handhabten, aber mein Geld ging an die Eltern, die mir davon etwas abgaben. Sie hatten durch den Krieg alles verloren und mussten sich nach der Flucht auf Rügen eine neue Existenz aufbauen. Erst nachdem mein Vater aus der Gefangenschaft heimgekehrt war, ging es mit uns bergauf. Wie schon erwähnt, er konnte fast alles und nahm jede Arbeit an, vom Hotelportier bis zum Sekretär des Bürgermeisters von Lubkow.

Oberschule und Internat waren in einem Gebäude untergebracht – dem Haus Karin[1]. Es wurde 1876 als erstes Hotel im Dorf Binz gebaut und ist heute noch ein imposantes Bauwerk. Unten befanden sich die Zimmer des Jungeninternats, der Aufenthaltsraum und der Speisesaal, im zweiten und dritten Stock die Klassenräume. Ich hatte Glück und kam in ein Dreibettzimmer zusammen mit Hans Schönemann und Hans-Joachim, dem Klassenbesten, wie sich bald herausstellte. Aber das ließ er nie heraushängen. Manchmal wachte ich zwar morgens durch ein Rascheln auf, wenn er im Geschichtsbuch las. Aber ich blinzelte nur und schlief gelassen weiter.

Um in unser Zimmer zu gelangen, mussten wir durch ein Vorzimmer, in dem vier weitere Mitschüler untergebracht waren. Ein beliebter Treffpunkt, wo es zuweilen hoch her ging. Gelegentlich spielte ich dort etwas zu laut Akkordeon, was uns Beschwerden seitens der Nachbarschaft einbrachte.

Für jene, die den Sport liebten, war Schule eher eine Nebensache, eine Angelegenheit, die man irgendwie hinter sich bringen musste. Ich hätte den Unterricht ernster nehmen sollen, aber das Leben außerhalb war verdammt verführerisch. Keine Frage, Sport und Mädchen waren in dem Alter für einige Jungs wichtiger.

Das Internatsleben war geregelt. Nach dem Unterricht und dem Mittagessen um 14 Uhr begann die Arbeitszeit, die etwa vier Stunden dauerte. Diese Zeit war für die Schularbeiten vorgesehen, in der auch manchmal die Lehrer zur Kontrolle erschienen. Danach durften wir über unsere Freizeit bestimmen und konnten, ohne uns abzumelden, das Internat verlassen. Lediglich um etwa 22 Uhr mussten wir zurück sein.

Im Internatsalltag wurde uns einiges aufgetragen, was sonst selbstlos unsere Mütter erledigt hatten. Selbst die Betten zu machen, war oberstes Gebot. Geschirr abwaschen oder andere Küchendienste waren sporadische Aufgaben. 1955 gab es immer noch Lebensmittelkarten in der DDR. Alle im Internat hatten ihre eigene Butterdose, die vom Küchendienst wöchentlich mit 250 Gramm Butter befüllt wurde.

Während des Essens in der Kantine bahnte sich bei mir eine unerwiderte Liebe zu Rosa an. Die Blondine, stets chic gekleidet, wirkte auf mich sehr attraktiv. Ständig suchte ich ihre Nähe, doch sie würdigte mich keines Blickes. Dabei hätte ich jederzeit eine andere haben können. Aber wie das in dem Alter so ist, abgewiesen zu werden, macht das Erobern erst recht reizvoll. Ich träumte mir allerlei Geschichten zusammen, bis ich erfuhr, dass sie schon lange einen festen Freund hatte. Sie war nur kurze Zeit im Mädcheninternat. Danach kam sie an den Schultagen mit der Kleinbahn von Sellin, wo sie bei ihren Eltern wohnte, wahrscheinlich um ihrem Freund nahe zu sein. Ich sah sie nur noch in den Pausen.

Mein Kummer mit der kühlen Blondine aus Sellin war bald verschmerzt, weil ich Herma entdeckt hatte, ein kleines, schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit Silberblick und einem geheimnisvollen Lächeln. Aber dazu später mehr.

Unsere erste Internatsleiterin war schon etwas älter, sie hätte unsere Mutter sein können. So benahm sie sich auch. Sie war immer freundlich, hatte Verständnis für unsere Probleme und ließ die Zügel locker. Sie kontrollierte zwar die Zimmer, aber nur, um uns zu fragen:

„Wie geht es Euch?“

Gelegentlich rügte sie auch die Unordnung. Jedenfalls war unser Internat keine strenge Einrichtung, verglichen mit einigen in Westdeutschland. Dort mussten in katholischen Schulen die Schülerinnen und Schüler noch in Einheitskluft Händchen haltend antreten.

Eines Tages lud unsere Internatsleiterin einige Mädchen und Jungen, denen sie besonders vertraute, zu einem Glas Sekt ein. In einer stillen Ecke des Aufenthaltsraums, in der man uns nicht belauschen konnte, hatte sie einen Tisch gedeckt. Es war spät und die anderen schliefen schon. Nanu, dachten wir, hat sie Geburtstag? Als wir die Sektgläser zum Anstoßen in der Hand hielten, verriet sie uns ihr Geheimnis.

„Ich muss heute von Euch Abschied nehmen – leider für immer.“

Abrupt stellten wir unsere Gläser wieder ab. Flüsternd wurde sie deutlicher: „Morgen werde ich in aller Frühe nach Berlin fahren.“ Wir wussten, wie das ablief, abhauen nannte man das damals. Mit nur einem Koffer, in dem sich das Wichtigste befand, den Frühzug nach Berlin nehmen. Banges Hoffen, nicht kontrolliert zu werden, nicht den Koffer öffnen zu müssen, in Berlin nicht in die falsche S-Bahn einzusteigen und im Westen an der richtigen Station auszusteigen. Erst dann befand man sich auf dem sicheren Boden der BRD. Es gab zwar noch nicht die Mauer, aber es wurde immer strenger kontrolliert, sowohl in den Zügen nach Berlin als auch in den Berliner S-Bahnen.

„Ich möchte mich nicht klammheimlich davonschleichen“, sagte sie unter Tränen.

Wir waren gerührt und fühlten uns geehrt ob dieses Vertrauens, das sie uns, den sechzehn bis siebzehnjährigen Jugendlichen, entgegenbrachte. Hätte jemand von uns ihr Vorhaben angezeigt, wäre sie wahrscheinlich verhaftet worden. Aber damals wusste jeder, wem man trauen konnte und wem nicht.

Nur bei einem Schüler an unserer Schule musste man mit Äußerungen vorsichtig sein. Wir wussten auch, warum. Er brauste ständig mit seiner Java-Maschine umher, einem tschechischen Motorrad. Das konnte sich damals kaum jemand leisten, noch weniger ein Auto, es sei denn, der Staat stellte einem für besondere Linientreue eins zur Verfügung. Sein Vater sei bei der Stasi, wurde gemunkelt. Aber allein schon seine Bemerkungen während des Unterrichts verrieten, welche politische Einstellung er hatte. Diesbezüglich hatten die meisten DDR-Bürger einen sensiblen Instinkt entwickelt.

Ohne ein Wort über den Verbleib unserer Internatsleiterin zu verlieren, wurde sie durch eine andere ersetzt.

Die Neue war noch jung, höchstens fünfundzwanzig und hatte ein Kind, das immer auf den Fluren herumkrabbelte, aber augenscheinlich keinen Ehemann. Sie bezog im Mädcheninternat ein Zimmer auf dem Korridor, wo auch die Schülerinnen wohnten. Das Mädcheninternat, eine alte Villa mit Balkonen im Stil der Bäderarchitektur, lag dem Jungeninternat direkt gegenüber, lediglich durch die Bahnhofstraße getrennt. Von nun an mussten wir am Zimmer der Internatsleiterin vorbei, wenn wir die Mädchen besuchen wollten. Da der gegenseitige Besuch strikt verboten war, kam dies aber eher selten vor. Dennoch suchten wir immer wieder nach Schlupflöchern. Klar, das Mädcheninternat war das Ziel unserer Begierde. Doch bei aller Offenheit zwischen den beiden Geschlechtern in der DDR hatte man uns hier einen Riegel vorgeschoben.

 

21  Meine Flucht

Nördlich von Binz lag in einem Sperrgebiet das geheimnisumwobene Prora. Strandspaziergänger, die dort hinwollten, standen bald vor Schildern: „SPERRGEBIET, Unbefugten ist das Betreten, Befahren und die bildliche Darstellung verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft.“

Im Süden beginnt die Steilküste, die sich bis nach Sellin und weiter nach Göhren hinzieht. Wir Internatsschüler wanderten dort oft auf dem Hochuferweg. Oder wir versuchten, das unwegsame Gelände auf Fahrrädern zu bewältigen. Der schmale Pfad schlängelt sich am Buchenwald entlang und nähert sich stellenweise gefährlich der Abbruchkante. Die Ostsee hatten wir immer im Blick. Tief unten der schmale Sandstrand, stellenweise mit Feuersteinen übersät. Ab und zu ragen große Findlinge aus dem Wasser. Wir gingen quasi an der Staatsgrenze der DDR entlang, am äußersten Zipfel der Republik. Bewusst wurde uns das aber erst, als wir berittene Grenzpolizisten entdeckten, die mit Ferngläsern die Ostsee absuchten. Mittlerweile war die Benutzung von Luftmatratzen und Booten beim Baden verboten worden. Gerüchte machten die Runde, dass einigen damit die Flucht gelungen sei. Auch ich hatte mir schon ausgemalt, wie ich es anstellen könnte, auf diese Art und Weise zu fliehen. Aber noch war der bequeme Fluchtweg über Berlin offen.

Die letzte Prüfung an der Oberschule war vorüber, und das sollte gefeiert werden. Wir freuten uns auf das Abschlussfest im Dünenhaus. Die imposante Villa, 1902 erbaut im Stil der Bäderarchitektur, lag an der Strandpromenade unweit des Kurhauses.

Alle waren gekommen, Lehrer wie Absolventen, nur mein Freund Klaus Rehmer nicht. Bei bester Stimmung, Getränken und Musik drehte sich die Unterhaltung um unsere Zukunft. Einige wollten studieren, andere lieber einen Beruf erlernen. Nur ich hatte noch keine konkreten Pläne. Immerhin hatte ich mich kurz vorher an der Fachschule für landwirtschaftliche Technik in Berlin beworben, wenn auch bloß zum Schein. Diese Geschichte gab ich nun vor meinen Freunden und den Lehrern zum Besten. So würde bestimmt niemand annehmen, ich hätte ernsthafte Fluchtabsichten.

Die Zeit verrann, draußen war es schon dunkel. Meine Gedanken kreisten ständig um den kommenden Tag. Ich versuchte, möglichst gelassen zu bleiben. Doch in meinem Kopf rumorte es. Zunehmend wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich sie alle nie mehr wiedersehen würde. Andererseits musste ich mit meiner Mutter dem Vater in den Westen folgen, sonst wäre unsere Familie für immer zerbrochen.

Die Konsequenzen meiner bevorstehenden Flucht wurden mir immer klarer. Die Insel Rügen war meine Heimat. Ihre Landschaft hatte sich wie ein Schatz in meine Seele gegraben, die sanften Hügel, die Wälder und Felder. Hie und da Baumgruppen, darunter lagen Gräber aus der Steinzeit. Einen Abschied von allem, was mir lieb geworden war, den Freunden, den Sportkollegen, den Lehrern und nicht zuletzt der Insel, konnte ich mir noch nicht vorstellen.

Ich liebte nicht nur Rügens Sehenswürdigkeiten, wie die berühmten Kreidefelsen, die Feuersteinfelder und das Mönchgut. Auch die unberührte Landschaft im Innern der Insel mit dem Sanddorn, dem gelben Ginster und der üppigen Flora in den Mooren zog mich magisch an.

Unzählige Male war ich schon die Straße zwischen Zirkow und Binz gefahren, durch herrliche Buchenwälder, die sich im Frühling mit einem weißen Teppich aus Anemonen schmückten. In Pantow an schilfgedeckten Bauernkaten vorbei, darunter der berühmte Zuckerhut, erbaut um 1700. Vor Serams öffnete sich der Blick auf goldgelb leuchtende Kornfelder. Und mit etwas Glück dampfte gerade die Kleinbahn quer über die unbeschrankte Straße.

Meine Gedanken kreisten um mein Fernweh, das mich schon als Kind in Zirkow gelegentlich heimgesucht hatte. Wenn ich auf der Dorfstraße niemanden zum Spielen antraf, streunte ich weiter bis zur Sandkuhle am Dorfrand. Diese war durch Sand- und Kiesabbau für das Projekt Prora in einem riesigen Berg entstanden. Alle Häuser von Zirkow hätten darin Platz gehabt. Dort erklomm ich den Abhang, um auf meine Birke zu klettern. Vom Hochsitz hatte ich einen Blick übers Moor bis nach Rügens Hauptstadt. Der Berg und die Sandkuhle sind mittlerweile durch zwei große Baggerseen verdrängt worden.

Mit etwa elf Jahren war ich schon wesentlich mutiger und lief allein querfeldein bis zum Bakenberg zwischen Viervitz und Posewald, auf dem in alten Zeiten Signalfeuer brannten, die den Schiffen den Weg wiesen. Eigentlich ist er kein Berg, sondern eine Hügelformation, die man auch Rügener Jungfrau nennt, weil ihre beiden Erhebungen an einen Busen erinnern. Auf dem Gipfel belohnte mich ein Blick bis zum Rügischen Bodden. Ein ähnliches Fernweh muss meinen Großvater bewogen haben, als Matrose auf einem Dreimaster jahrelang über die Weltmeere zu segeln. Solche Erinnerungen gingen mir damals durch den Kopf.

Meine Gedanken kehrten wieder in die Gegenwart zurück, die Augen suchten den Saal nach meinem Freund ab. Aber Klaus war noch nicht aufgetaucht. Allmählich beschlich mich ein Verdacht. War der schon in den Westen abgehauen, ohne mir etwas zu sagen?

Um meinen Abschiedsschmerz zu betäuben, hatte ich während der Feier Schnaps getrunken – zu viel, denn ich begann plötzlich zu plaudern. In mir hatte sich etwas angestaut. Warum durfte ich nicht darüber sprechen, dass ich mich entschieden hatte, an einem anderen Ort auf unserem Erdball zu leben? Am liebsten hätte ich meine Wut in den Saal geschrien. Stattdessen sagte ich mit lallender Stimme, aber für die Lehrer um mich herum verständlich genug: „Morgen haue ich in den Westen ab.“ Dabei sah ich meinem Klassenlehrer in die Augen, der dicht vor mir auf einem erhöhten Absatz stand. Ich mochte ihn. Mit ihm konnte man über alles reden. Er schaute mich ruhig an. Über sein Gesicht glitt ein mitleidiges Lächeln, das man einem Betrunkenen entgegenhält, den man nicht für voll nimmt. Die anderen Lehrer taten so, als hätten sie nichts gehört. Meine Mitschüler wechselten plötzlich das Thema und versuchten, mich durch allerlei Gesten zum Schweigen zu bringen. Während ich immer noch über mein Vorhaben redete, zog mich ein Mädchen aus unserer Klasse am Arm:

„Komm! Du brauchst etwas frische Luft.“ Sie schob mich resolut vor sich her. Draußen war es schon dunkel. Entschlossen dirigierte sie mich über die Strandpromenade zu dem schmalen Pfad, der über die Dünen zum Strand führte, bis zu einem offenen Strandkorb. Sie setzte sich neben mich und machte mir Vorwürfe, warum ich das alles vor den Lehrern ausgeplaudert habe. Unter Tränen befreite ich mich von meinem Kummer, indem ich ihr stockend alles erklärte. Sie glaubte mir, was mich tröstete. Besorgt sagte sie:

„Warte bitte hier, ich hole Dir einen Kaffee, dann kommst Du wieder zur Besinnung.“

Die Tränen hatten mir gutgetan. Ich atmete tief die frische Seeluft ein. Ein letztes Mal lauschte ich der Symphonie der Ostsee, dem Plätschern der Wellen im Wechsel mit dem Atem des Windes. Mein Blick schweifte hinüber zu den Lichtern von Saßnitz. Wenn alles gut ging, würde ich morgen in Berlin sein und Rügen für immer verlassen haben. Könnte ich mich jemals wieder in der Heimat sehen lassen, fragte ich mich, denn ich hatte auf Staatskosten die Oberschule besucht und sogar ein Stipendium erhalten. Ich stand in der Schuld des Staates und wusste nicht, wie man mit mir umgehen würde.

Sie war immer noch nicht zurück. Nur für einen Augenblick keimte Misstrauen in mir auf. Nein, nein, sie würde niemals…, beruhigte ich mich. Als sie plötzlich vor mir stand, zuckte ich zusammen. Der Kaffee besserte schnell meinen Zustand. Nachdem ich ihr meinen Fluchtplan anvertraut hatte, fühlte ich mich erleichtert. Freundschaftlich gingen wir Arm in Arm zurück. Im Dünenhaus taten alle so, als sei nichts gewesen. Vielleicht hatten die Lehrer wirklich geglaubt, ich hätte im Alkoholrausch nur Unsinn geredet. Oder wollten sie lieber nichts gehört haben? …